Matsumoto Naoko
Legal History Review, (53) 113-153, 2003
Der vorliegende Aufsatz versucht, die Funktion des Gewerbeprivilegs im frühneuzeitlichen deutschen Rechtssystem aus der Perspektive der Normdurchsetzung zu deuten. Analysiert werden hier sechs Zunftprozesse aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Kurfürstentum Hannover, die in der Dissertation von Georg Christoph Schreiber "de causarum politiae et earum quae iustitiae dicuntur conflictu et differentia dissertatio" (1739) dargestellt wurden. Zünfte verschiedener Berufsgruppen wie Bäcker, Gerber, Weber, Zeugschmiede, Kaufmänner usw. suchen dort ihre Rechte auf Gewerbemonopol, and zwar entweder gegen eine andere Zunft oder gegen Einzelpersonen, die aus dem Zunftwesen ausgeschlossen waren. Dieses Gewerbeprivileg, um das sie vor Gericht kämpften, ist als eine typisch vormoderne Rechtsquelle der ständischen Gesellschaft zu betrachten, das mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert - konkret gesagt nach der Einführung der Gewerbefreiheit - verschwand. Ziel des Aufsatzes ist mithin, den Durchsetzungsmechanismus des Gewerbeprivilegs als typisch vormodernes Recht in der Ständegesellschaft im Vergleich mit dem individualistisch and wirtschaftlich liberal ausgeprägten Rechtssystem der burgerlichen Gesellschaft zu verdeutlichen.<BR>Dabei soil betont werden, daß die Gewerbeprivilegien in der Frühen Neuzeit zu "Polizeisachen" gehörten, die im Prinzip nicht vor Gericht geprüft werden durften. Polizeisachen im frühneuzeitlichen Sinn umfassten alle Angelegenheiten der Regierung für das Gemeinwohl - darunter auch die Gewerbepolizei. Im Zeichen des Absolutismus im 18. Jahrhun dert verlangten die Füsten im Alten Reich zunehmend mehr Raum für das Regieren (Polizei). Oft erschienen den Regenten Gewerbeprivilegien der Zünfte als Hindernisse des wirtschaftlichen Wachstums. In dem Fall konnte es passieren, daß das Gewerbeprivileg abgeschafft, oder ein neues Gewerbeprivileg einer anderen innovativeren Zunft zugeteilt wurde, die bessere Waren produzierte. In den beiden Fällen wurden die obrigkeitlichen Aktivitäten im Rahmen der "Polizeisachen" ausgeübt. So entstand ein charakteristisches Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Fürsten and denen der Zünfte. Daraus ergibt sich die Frage, welches Element in den hier zu analysierenden Fällen die größere Durchsetzungskraft hatte, entweder das ständisch-korporative Recht oder das individuelle Recht, Staatsgewalt (Polizei) oder ständische Korporation (Privilegien).<BR>In der Forschung wurden in den letzten Jahren zunehmend die sogenannten Untertanenprozesse als zentrales Beispiel für Prozesse über Polizeisachen untersucht. Dabei geht es - im Zusammenhang mit der Suche nach dem Ursprung der modernen Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland - um die Frage, ob die Untertanen in der Frühen Neuzeit kein Rechtsmittel gegen das Unrecht der Obrigkeit hatten. Dieser Aufsatz will dagegen im Anschluß an die neuere Privilegienforschung betonen, daß sich die Rechtslage der Untertanen in der Frühen Neuzeit besonderes in der Frage der Gewerbeprivilegien in den Prozeß über Polizeisachen widerspiegelt. Auch in Polizeisachen, and auch wenn ein Streit durch Abschaffung oder Veränderung eines Privilegs durch die Obrigkeit verursacht wurde, verklagten Untertanen (Zünfte) nicht direkt die Obrigkeit, sondern andere Untertanen, mit dem Ziel, sich vor Gericht ihre Privilegien bestätigen zu lassen, and damit die Obrigkeit (indirekt) doch zu bekämpfen.